Leise rieseln die weißen Kristalle auf ihr Gesicht. Sanft, kaum spürbar – wie eine leichte Berührung eines Fremden. Sie schließt die Augen und spürt die Kälte auf ihren Wangen. Den leichten Wind der schräg an ihr vorbeizieht. Der Schnee legt sich unbemerkt auf ihr Gesicht, auf ihre Kleidung auf ihre Haare. Sie beweget sich nicht. Keinen Schritt wagt sie zu gehen, kaum atmen traut sie sich. Viel zu kostbar scheinen die kleinen Schneekristalle, die sich auch schon wieder auflösen, sobald sie ihren Körper berühren. Als würde sie alles töten, dass sie berührt. Still steht sie da, an eine Hauswand gelehnt und mit schweren Herzen. „Mache ich nur einen Schritt, töte ich 1 000 kleine Kristalle“, denkt sie benommen. Nur ein Schritt, und der Schnee wird unter ihren Füßen davon schmelzen. Destruction. Als würde alles was man anfasst zu nichts werden. So wie die Schneeflocken zu Wasser werden, so wie Worte zu Hüllen werden, so wie Gedanken zu Luftschlößern werden. Weil es manchmal so scheint, als würde alles hinter einem zu nichts werden. Because nothing lasts forever. Oder wie war das? Dinge bleiben nicht beständig, sie ändern sich, von Tag zu Woche, von Moment zu Situation, von Person zu Gesellschaft. So hat sie manchmal das Gefühl, als würde ihr alles entgleiten. Als würde sie fühlen, ohne es zu wollen, als würde sie etwas sehen, ohne dass es existiert. Einbildungen. Luftschlößer. Träumereien. Unwirkliches. & dann ist da wieder die Angst Dinge zu zerstören, die man berührt. So wie den Schnee. So wie Beziehungen. So wie unachtsame Worte. Nur nichts berühren. Nicht aus Selbstschutz, vielmehr um Fremde zu schützen. Um sie nicht zu zerstören. Oder stimmt das nicht? Umgekehrt?
Der Schnee fällt auf die Autodächer und lässt die Farben unter einer weißen Decke verschwinden. Wie Zucker über Kuchen. Wie Tagesdecken über Betten. So legt sich der Schnee über die Welt. & macht sie dadurch nur noch zerbrechlicher. Ein Mann mit schwarzem Mantel kommt ihr entgegen. Er trägt eine dunkelblaue Mütze und die Hände in der Jackentasche. Der Blick gesenkt, als würde er dem Schnee ausweichen wollen, der vom Himmel rieselt. Mit starken großen Schritten kommt er auf sie zu. Er blickt kurz auf und weicht ihr aus. Seine Augen sind gerötet, seine Nase und sein Gesicht wirken wie versteinert. Keine Mimik, keine Bewegung, kein Blick. Er wirkt wie erstarrt und geht teilnahmslos an ihr vorüber. Dieser Mann scheint den Winter nicht zu mögen. Menschen scheinen generell den Winter nicht zu mögen. Sie hüllen sich in dicke Wintermäntel, hohe Stiefel, Mützen und Wollschals. Sie versuchen, den Schnee ja nicht zu berühren. Sie weichen ihm aus und meiden die weißen Flocken. Sie verstecken sich unter Regenschirmen oder unter Dächern. Sie hassen das Weiß.
Das Mädchen ist da anders.
Sie blickt dem Mann nach, der eilig in eine Seitengasse einbiegt. Er kann es wohl kaum erwarten zuhause anzukommen. Sie beginnt allmählich ein bisschen zu frösteln. Das dunkle Kleidchen hält nicht warm. Sie sollte nachhause gehen, bevor sie sich verkühlt. Doch sie kann sich nicht bewegen. Sie sieht die Schritte im Schnee, die der Mann hinterlassen hat. Die Spuren, die von jedem sein könnten, aber von ihm sind. So wie jeder Mensch spuren hinterlässt, im Leben eines anderen. Seien es Narben, Momente oder Lieder, die man nicht mehr hören kann. Erinnerungen, die vielleicht verblassen, aber nie verschwinden. Wie Spuren im Schnee. Man kann sie nicht nicht hinterlassen. & jeder kann es sehen. Jeder sieht den Weg, den man beschreitet hat. Die Dinge die man zerstört hat, die Dinge, die man geliebt hat und auch jene, die man erweckt hat. Man hinterlässt und auch auf einem selbst wird hinterlassen. Soviele Spuren, so viele Richtungen, so viele Wege und noch immer so viel Platz für neues. Vielleicht ist es doch gar nicht so schlimm, seinen Weg durch den Schnee zu gehen, denkt sie. Vielleicht hinterlässt sie etwas für einen anderen, der sich darüber freut. Vielleicht werden es auch Irrwege oder Sackgassen. Ist es wichtig etwas zu hinterlassen? Oder ist viel wichtiger, was man hinterlässt? Das „was“ oder das „ob“. Sie wischt sich die weißen Flocken von ihrem schwarzen Kleid.
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